Liebe Leserinnen und Leser,

ihr Opfer war so gut wie tot; das stand außer Frage. Noch krabbelte es auf zittrigen Beinen am Rand des leuchtend roten Fangeisens entlang. Noch tastete es mit seinen Fühlern nach dem süßlichen, fauligen, verführerischen Duft ihrer Nektardrüsen. Doch nur wenige Millimeter weiter und es würde mehrere ihrer Sinneshärchen berühren und die gespannten Tellereisen ihrer Fangblätter binnen 100 Millisekunden zuschnappen lassen. Widerstand war zwecklos.

Natürlich könnte sich Dionaea muscipula, die Venusfliegenfalle, von Sonnenlicht, Kohlendioxid, Wasser und Mineralien des Bodens ernähren. Doch jeden Morgen wacht sie auf und entscheidet sich aufs Neue für etwas anderes: Gewalt! Warum? Weil sie an ihrem nährstoffarmen Standort einfach nicht auf die Stickstoff-Leckerli verzichten kann, die auf ihr herumkrabbeln.

Hat sie einen Arthropoden in einem ihrer Fangblätter eingeschlossen, bewerten Chemorezeptoren dessen Verwertbarkeit. Erachtet sie ihr Opfer als schmackhaft, versiegelt sie das klebrige Grab vollständig. Selbst Flüssigkeit kann dann nicht mehr austreten. Kleine Drüsen sondern nun ein Verdauungssekret ab, dessen Amylasen, Esterasen, Phosphatasen, Proteasen, Ribonukleasen und in geringen Mengen auch Chitinasen den gefangenen Gliederfüßer bis auf Molekülebene zersetzen. Nach zehn Tagen ist das Festmahl vorbei. Nur unverdauliche Reste wie Beine und Chitinpanzer bleiben übrig und fallen zu Boden, sobald sich die Fangblätter erneut öffnen und aufrichten. Das Massengrab zu Füßen der Venusfliegenfalle wächst.

„Blasphemie!“, tadelte Carl von Linné derartige Karnivorie. Zwar erkannte er 1768 die Erstbeschreibung von Dionaea muscipula durch den irischen Botaniker und Zoologen John Ellis an, verwarf fleischfressende Pflanzen aber mit Verweis auf Genesis 1,29: „Und Gott sprach: Seht da, ich habe euch gegeben allerlei Kraut, das sich besamt, auf der ganzen Erde und allerlei fruchtbare Bäume, die sich besamen, zu eurer Speise.“ Pflanzen, denen Tiere als Nahrung dienen, passten nicht ins biblische Weltbild.

Was hätte wohl Carl von Linné generell zu solchen Formen extraintestinaler Verdauung gesagt? Selten ist sie schließlich nicht – auch nicht im Tierreich. So verdauen Seesterne, Schnabelfliegen, Lauf-, Schwimm- und Aaskäfer sowie alle Arten von Webspinnen ihre Nahrung außerhalb des Körpers, indem sie entweder ihren Magen nach außen stülpen, Verdauungstropfen hochwürgen oder Verdauungsenzyme in ihre Opfer injizieren und den Nahrungsbrei aufsaugen.

Wie spannend wäre es unterdessen, wenn die stammesgeschichtlichen Vorfahren der Säugetiere ihre Verdauung gar nicht internalisiert hätten? Wie sähen 5-Sterne-Restaurants wohl heutzutage aus? In einem Ambiente aus Seide und Licht nähert sich der Ober mit gedämpften Schritten. In Baumwollhandschuhen trägt er die kulinarischen Höhenflüge einer Kreativküche, die noch die exotischsten Aromen auf Porzellan zu bannen versteht. Elegant platziert er das raffinierte Mahl auf der makellosen Tischdecke vor seinen Gästen. Sie staunen, haben längst ihre Stoffservietten in den Schoß gelegt, öffnen ihre Münder und beginnen lautstark zu würgen …

Die Venusfliegenfalle kümmern derartige Gedankenexperimente natürlich nicht. Sie spürt schon den nächsten Arthropoden auf ihren Fangblättern entlangkrabbeln. Stickstoff! Mmh! Yummy!

Auch Ihnen, liebe Leserin oder lieber Leser, einen guten Appetit bei Ihrer nächsten Mahlzeit – egal, wo, wie und was Sie verspeisen!

Ihr Henrik Müller/Laborjournal

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